Von Karin Dehmer (Interview)
Unterschiedliche Vorstellungen von Kindererziehung bergen Konfliktpotenzial zwischen Eltern und Grosseltern. Aber sind die Unterschiede zwischen den Generationen tatsächlich so gross? Nachgefragt bei Erziehungswissenschaftlerin Franziska Widmer.
Frau Widmer, haben sich die Erziehungsvorstellungen von Eltern und Grosseltern in den vergangenen Jahrzehnten grundsätzlich einander angeglichen, hin zu einer grösseren Kindorientierung und zum Verhandeln statt Befehlen?
Das ist kulturabhängig. In der westlichen Mittelschichtskultur ist es sicher so. Die 68er-Generation, die jetzt im Grosselternalter ist, ist sicher grundsätzlich freiheitlicher eingestellt als die Generationen vor ihr. Aber dann gibt es auch Unterschiede zwischen Stadt und Land und schliesslich ist die Erziehungsfrage oft auch bildungsabhängig. In anderen Kulturen – ich denke an Familien mit Migrationshintergrund – gelten teilweise ganz andere Erziehungsziele, nicht zwingend schlechtere. Sie orientieren sich eher daran, dass Kinder sich in die Gemeinschaft einzufügen haben, anstatt dass sie zu Autonomie erzogen werden. In diesen Kulturen wird das im Vergleich zu unserer oft auch noch mehr von den Grosseltern erwartet.
Inwiefern ist die Erziehungsrolle
der Grosseltern eine andere als die der Eltern?
Grosseltern haben ganz klar eine neue Erziehungsrolle verglichen zur Zeit, als sie selbst Eltern gewesen sind. Sie müssen nicht erziehen. Die Eltern erziehen. Das ist für Grosseltern sehr entlastend. Ich kenne Grosseltern, die genau diesen Aspekt am Grosselternsein ganz besonders geniessen.
Nehmen Grosseltern vor allem die Rolle eines Gegengewichts ein, sind also eher verwöhnend, wo sie die Eltern als zu streng empfinden, und umgekehrt?
Das ist sehr abhängig von der Beziehung zwischen Eltern und Grosseltern, von der Familiendynamik. Grosseltern sind grundsätzlich gelassener, nicht unbedingt verwöhnender.
Bei den Themen Essen, Schlafen und Medienkonsum gehen die Erziehungsvorstellungen zwischen den Generationen besonders häufig auseinander, oder?
Beim Medienkonsum könnte ich mir vorstellen, dass Eltern wie Grosseltern gleich unsicher sind, die Grosseltern aber vermutlich strenger reagieren, sofern sie selbst die Medien nicht besonders stark nutzen. Bei allen erwähnten Themen, so vermute ich, liegt der übergeordnete Grund für die Differenzen darin, dass es keine klare Haltung in der Gesellschaft dazu gibt. Gerade beim Schlafen haben sich ja die Expertenmeinungen in den letzten Jahrzehnten komplett geändert. Die Krux ist: Sie haben sich zwar geändert, aber es gibt natürlich immer noch verschiedene Ansichten – abgesehen von der Gewissheit, dass die Kinder allein in den Schlaf weinen zu lassen, ohne zu signalisieren, dass man sie gehört hat und da ist, nicht gut ist.
Was können Grosseltern tun, wenn ihnen Erziehungsansätze der Eltern Mühe bereiten?
Die Eltern bestimmen. Das ist einfach so. Den Grosseltern empfehle ich ein klares Rollenverständnis: «Wir dienen den Eltern und dem Enkelkind.» Wenn sie den Eltern zu sehr in die Erziehung hineinreden oder diese gar torpedieren, müssen sie damit rechnen, ersetzt zu werden. Das trifft natürlich nicht auf Fälle zu, bei denen das Kindeswohl in Gefahr ist. Da sind Grosseltern wie alle anderen Menschen im Umfeld eines Kindes dazu verpflichtet, auf Missstände hinzuweisen.
Nicht wenige Grosseltern bewundern die heutigen Eltern für ihre grosse Geduld mit ihren Kindern. Ist das denn wirklich so? Haben heutige Eltern mehr Geduld oder hat die Grosselterngeneration einfach vergessen, wie geduldig sie selbst gewesen ist?
Ich weiss nicht, ob Geduld das richtige Wort ist. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stets mehr in die Richtung entwickelt, in der Kinder einen höheren Stellenwert haben. Manchmal kommt es mir so vor, als hätten heutige Eltern auch Angst, etwas falsch zu machen, den Kindern Schaden zuzufügen, wenn sie gegen deren Willen entscheiden. Oft ist das Gegenteil der Fall, man schadet den Kindern, wenn man ihnen zu wenig Orientierungshilfe gibt. Die Eltern haben das Gefühl, viel tolerieren zu müssen. Hier kann sich die Grosselterngeneration versuchen einzuschalten und den Eltern aufzeigen, dass die Kinder auch lernen müssen, sich in die Gesellschaft einzufügen. Manchmal scheint es, geht dieser Aspekt etwas vergessen.
Aber wie Sie bereits gesagt haben: Die Grosseltern können die Eltern bloss darauf hinweisen. Etwas an deren Erziehung ändern können sie nicht?
Ja. So ist es.
Franziska Widmer ist Dozentin für frühkindliche Erziehung am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.