Kajo Gäs: Pfarrer, Papa und Grossvater

Katholische Priester dürfen keine Kinder haben. Kajo Gäs wurde trotzdem Vater. Er erzählt, warum er kein schlechtes Gewissen hat, wie er das Geheimnis wahrte – und warum die Geburt des Enkels ein Lebenshighlight ist.

Von SERAINA SATTLER (Interview) und KLAUS PETRUS (Foto)

„Durch den Enkel schaue ich nun auch nach vorne“: Kajo Gäs

Im Frühjahr lief der Film «Unser Vater» im Kino, in dem Priesterkinder darüber sprechen, wie sehr sie unter der Geheimnistuerei und der Abwesenheit ihres Vaters litten. Sie hingegen waren trotz Priesteramt ein präsenter Vater. Wie kam es dazu?
Kajo Gäs: Ich war nie gegen Kinder, aber als Priester durfte ich keine haben. Meine Partnerin, die ich natürlich auch nicht hätte haben dürfen, hatte sich schon länger ein Kind gewünscht. Wir strebten eine Schwangerschaft nicht direkt an – aber wir unternahmen auch nichts dagegen. Als ich erfuhr, dass ein Kind unterwegs war, freute ich mich. Wie ein Blitz ging mir durch den Kopf: «Jetzt ändert sich alles!»

Bewahrheitete sich das?
Ja. Meine Partnerin und ich mussten uns total umstellen. Wir waren damals bereits sieben Jahre zusammen. Ich war Studentenpfarrer in Köln und hatte dadurch gewisse Freiheiten. Ich lebte in einer Privatwohnung; das bedeutete recht viel Privatsphäre. Ein paar Monate nach der Geburt unserer Tochter zogen wir zusammen in ein mehrstöckiges Haus. Ich mietete es und vermietete einzelne Zimmer weiter an Studierende. So fiel nicht auf, dass wir da als Familie lebten.

Führten Sie in diesem WG-Haus ein normales Familienleben?
Ja. Die Studierenden im Haus wussten von unserer Situation und auch meine Sekretärin war eingeweiht. Die anderen Studierenden, die ich als Pfarrer betreute, wussten allerdings nichts. Sie sagten jeweils beim Abschied aus Jux: «Grüss Frau und Kind!» Erst vor zehn Jahren sagte ich ihnen bei einem Treffen, dass ich damals tatsächlich Frau und Kind hatte.

War es je ein Thema für Sie, das Priesteramt zugunsten der Familie abzulegen?
Ich war bereit, etwas anderes zu machen. Der Plan war, als Journalist zu arbeiten. Ich war oft in China gewesen, lernte Chinesisch und wollte mich darauf spezialisieren. Dafür nahm ich ein Sabbatical und reiste nach Taiwan, wo ich ein Jahr bleiben wollte. Doch dann kam alles anders: Meine Partnerin starb völlig unerwartet und ich brach meinen Auslandaufenthalt ab.

Warum gaben Sie Ihren Plan, Journalist zu werden, auf?
Ich rang mit mir. Doch unsere Tochter Katharina war damals dreieinhalb Jahre alt und Halbwaise, da wäre es nicht gut gewesen, wenn ich ein Jahr lang weit weg gewesen wäre.

Wie organisierten Sie sich nach dem Tod der Mutter?
Dadurch, dass ich im Sabbatical war, konnte ich das Kind am Anfang betreuen. Dann brachte ich Katharina zur besten Freundin meiner Partnerin im Berner Jura. Die beiden Frauen hatten schon Jahre zuvor abgemacht, dass sie das Kind der jeweils anderen aufziehen würden, sollte ihnen etwas zustossen. Am Anfang besuchte ich Katharina regelmässig von Köln aus und nach ein paar Monaten liess ich mich in die Schweiz versetzen. Ich wollte für meine Tochter da sein. Ich war dann 15 Jahre lang Priester in Allschwil, wo ich 80 Prozent arbeitete, damit ich meine Tochter jede Woche sehen konnte.

Offiziell konnte Katharina allerdings nie als Ihre Tochter in Erscheinung treten.
Nein, offiziell war sie mein Patenkind.

Wären Sie nicht gerne mal mit ihr Hand in Hand durchs Dorf spaziert?
Doch, natürlich. Das ist mein menschliches Schicksal, meine Trauer. Ich konnte mit kaum jemandem über meine Tochter sprechen. Selbst meiner Mutter habe ich nie erzählt, dass ich ein Kind habe. Sie hätte einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie erfahren hätte, dass ihr Sohn, der Priester, Vater ist. Ich versuchte, das Mögliche mit dem Unmöglichen zu verbinden. Hätte ich von der Kanzel herab gesagt, dass ich ein Kind habe, hätte ich nicht Priester bleiben können. Wie ein Diplomat musste ich mir immer überlegen, was ich wem wie sage.

Gab es Pannen?
Als Katharina klein war, rief sie mir im Pfarramt mal «Papa!» zu. Ich bin mir sicher, dass die Sekretärin das gehört hatte, aber sie sagte nie etwas. Meistens nannte mich meine Tochter beim Vornamen. Sie wusste, dass sie öffentlich nicht Papa sagen durfte. Einmal fuhren wir an der reformierten Kirche vorbei, da meinte sie: «Da darf man Papa sagen, gell!» Das gab mir einen Stich ins Herz. Aber ich konnte es nicht ändern.

Belastete Sie der Spagat zwischen Priester und Vater?
Es war schon immer wieder schwierig. Aber im Inneren belastete mich das nicht richtig. Meine Tochter gab mir Kraft.

Als Ihre Tochter sieben war, sagten Sie ihr, dass Sie Priester sind und was das bedeutet.
Ich dachte, in diesem Alter könne sie es verstehen. Davor war ich für sie ein Sozialarbeiter, wie sie es von ihrer Mutter und auch Zweitmutter kannte – was ja auch stimmte, denn als Priester hatte ich viele Ämter.

Im Buch «Anders aufgewachsen – 11 Kindheiten im Porträt» erzählt Katharina ihre Version der Geschichte, wodurch erstmals öffentlich wurde, dass Sie Priester und Vater sind. Was hielten Sie von dieser Veröffentlichung?
Es gab keine Gründe dagegen. Inzwischen bin ich pensioniert und sowohl das Priester- als auch das Vatersein gehören zu meinem Leben. Ich finde, dass man über den Zölibat sprechen muss.

Als Priester wären Sie eigentlich verpflichtet gewesen, den Zölibat einzuhalten.
Ich musste das Zölibatsversprechen mit meiner Hand unterschreiben, doch mental tat ich das nicht. Ohne dieses Versprechen hätte ich meinen Traumberuf Priester nicht ausüben können. Ich nahm die Unterschrift als Mittel zum Zweck in Kauf. Ich war schon immer gegen den Pflichtzölibat gewesen.

Sie haben ein Versprechen gebrochen.
Ich habe nicht gegen die Regeln des Glaubens verstossen. Der Zölibat ist ein Kirchengesetz, das die Kirche ändern könnte und sollte. Ich kann vor mir, meinen Mitmenschen und vor Gott verantworten, was ich getan habe. Ich habe niemandem geschadet, im Gegenteil. Der für mich wichtigste Satz im Katholischen Kirchenrecht lautet: «Das höchste Gesetz ist das Heil des Menschen». Daran habe ich mich gehalten. Zudem habe ich zwar ein Versprechen gebrochen, aber keinen Eid, wie ihn Mönche ablegen müssen. Das ist ein Unterschied. Natürlich sollte man auch Versprechen halten. Aber wie viele Paare versprechen sich ewige Liebe und können das nicht halten? Es ist paradox: Im Grunde genommen bin ich Priester geblieben wegen des Kindes.

Eigentlich hätten Sie kein Kind haben dürfen – inzwischen sind Sie sogar Grossvater. Wie ist das für Sie?
Dass ich in späten Jahren auch noch einen Enkel bekommen habe, ist ein Lebenshighlight. Ich habe mich so gefreut über diese Geburt! Mein Enkel lebt zwar nicht um die Ecke, doch vom Gefühl her bin ich ihm sehr nah. Er ist nicht nur für mich als Mensch ein Geschenk, sondern auch in philosophischer Hinsicht: Als alter Mann schaue ich zurück auf das, was war. Durch den Enkel schaue ich nun auch nach vorne.

Wenn Sie nicht Grossvater wären, würden Sie das nicht tun?
Da käme ich vielleicht gar nicht drauf. Wahrscheinlich würde ich mehr der Vergangenheit nachhängen. Durch den Enkel werde ich herausgefordert, denn ein Kind lebt total im Hier und Jetzt. Theoretisch war mir das immer klar, aber jetzt erlebe ich es.

Mehr als mit Ihrer Tochter, als sie klein war?
Ja. Da lebte ich natürlich auch in der Gegenwart, aber anders. Eher ganz praktisch: Windeln wechseln und all das. Jetzt hingegen kann ich mehr darüber nachdenken und nachfühlen, was die Fragen und Sorgen der heutigen Zeit sind. Zudem sind die Anfänge des Menschseins sehr spannend! Die Philosophin Hannah Arendt forderte, man solle nicht nur über die Sterblichkeit des Menschen nachdenken, sondern auch über seine «Geburtlichkeit».

Was möchten Sie Ihrem Enkel mitgeben?
Mein Enkel ist jetzt vier Jahre alt. Ich wünsche mir sehr, dass ich ihn noch lange erleben darf. Es würde mir Freude bereiten, eines Tages mit ihm kritische Diskussionen über Gott und die Welt zu führen. Und ich würde ihm gerne zeigen, dass man als Mensch wie ein Baum Kraft ziehen kann aus dem, was man hat und ist. Dass man aus den Wurzeln heraus nach oben zum Licht strebt. Als Kajopa, wie mich der Kleine nennt, schaue auch ich in diese Richtung. •

Kajo Gäs‘ Tochter Katharina Arzt erzählt im Buch «Anders aufgewachsen – 11 Kindheiten im Porträt» aus ihrer Kindheit (Seraina Sattler und Anna Six, Christoph Merian Verlag, 2022)