Kann ich nicht einfach mal Chillen?

Du sollst deine Freizeit sinnvoll verbringen! Man könnte fast meinen, der Satz stamme aus der Bibel. So oft wird dieses Gebot wiederholt. Ganz weit oben in der Kategorie «dümmste Freizeitbeschäftigung» stehen natürlich elektronische Zeitfresser. Unklar scheint nur noch, ob Handyhantieren, Computerspielen oder das gute alte Fernsehen die Goldmedaille gewinnt. Auf dem Kreuzzug gegen die böse neue Technik wird aber gerne vergessen, dass es auch noch andere sinnbefreite Freizeitaktivitäten gibt. Zum Beispiel Orchideen-Fotografieren. Oder Puzzle-Legen. Und dann ist da noch dieses verdächtige «Chillen», das meine Kolumnen-Kollegin Aline vor kurzem so schön beschrieben hat. Klingt gefährlich nach Abhängen und Rumlungern. Ein perfekter Nährboden für grosselterliche Alpträume: Wer zu viel chillt, wird bald drogensüchtig oder gar kriminell. Vom Chiller zum Killer sozusagen. Halt, halt, meint da der dänische Philosoph Søren Kierkegaard: «An sich ist Müssiggang durchaus nicht die Wurzel allen Übels, sondern ist, im Gegenteil, ein geradezu göttliches Leben, solange man sich nicht langweilt.» Das heisst erstens: Nicht Freizeit, sondern Langeweile ist aller Laster Anfang. Noch wichtiger ist aber zweitens: Freizeit bedeutet eigentlich, nichts zu müssen. Darin liegt das göttliche Leben. Mit anderen Worten: Chillen ist erlaubt. Dumm ist nicht, mit elektronischen Geräten zu spielen, kleine Kartonstücke zusammenzusetzen oder Blumen zu porträtieren. Dumm ist nur, das Göttliche zu vergessen, das in der Zweckfreiheit des Chillens liegt.

Urs Siegfried, Initiator und Leiter des Zürcher Philosophie Festivals, hat erst Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, bevor er die Philosophie für sich entdeckte. Fürs Grosseltern-Magazin beantwortet er jeden Monat eine Kinderfrage.
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Aus dem Grosseltern-Magazin 09/2018