Meine Grosseltern: Irène Kälin erzählt von ihren zwei Grossmüttern

Kürzlich hat der Sohn von National­rätin Irène Kälin gefragt: «Mama, hast du auch Grosseltern?» «Ja», antwortete sie, «ich hatte zwei Grossmütter». Und die haben sie sehr verwöhnt.

Von Irène Kälin (Text)

«Ich hatte zwei Grossmütter. Grosi und Grossmamme. Sie haben mich verwöhnt. Immer. Vielleicht etwas zu sehr. Vielleicht mit etwas zu vielen Süssigkeiten. Aber dafür mit den besten der Welt. Grosi machte Quittenchröpfli mit selbst gemachem Quittenchrusi (Quittenkonfi) und Grossmamme machte Berge von Öpfuchüechli. Wenn ich die Augen schliesse, dann rieche ich noch heute den Duft dieser beiden Köstlichkeiten. Aber natürlich waren meine Grossmütter mehr als Zuckerbäckerinnen. Sie haben für mich Tierbilder aus Magazinen und Zeitungen gesammelt, damit ich diese ausschneiden und einkleben konnte – auch dann noch, als ich schon viel zu gross dafür war. Und sie haben mit mir gejasst und wie durch ein Wunder habe ich eigentlich immer gewonnen. Grossmamme hat mir Socken gestrickt. Viele. Auch noch, als die Laufmaschen immer zahlreicher wurden. Nie habe ich ihre Socken mehr geschätzt als dann, als sie nicht mehr perfekt waren. Bei Grosi habe ich gelernt, mit einer Tretnähmaschine zu nähen. Natürlich war ich immer viel zu schnell unterwegs mit der ratternden Nadel. Erst recht, als dann eine elektrische Nähmaschine zum Einsatz kam. Aber meine Liebe fürs Nähen war geweckt. Für immer. Und so haben mich meine Grossmütter begleitet, als ich Tierforscherin werden wollte, was beide eine ganz schlechte Idee fanden. Sie haben mir zugehört, als ich Schneiderin und Modedesignerin werden wollte. Das fanden sie zwar weniger gefährlich, aber auch noch nicht das Gelbe vom Ei. Oder als ich Telefonistin werden wollte.
Sie hatten beide – Zeichen der Zeit – diese alten Telefone mit Zahlenring, bei denen man die Zahlen ganz durchziehen musste, damit man am Schluss dahin verbunden wurde, wo man hinwollte. Faszinierend. Besonders, wenn ich daran zurückdenke. Auch dieser Kindertraum ist geplatzt. Denn heutige Callcenters haben mit meiner Fantasie von damals wenig zu tun. Mein Sohn wird diese Telefone höchstens noch im Museum bewundern können, aber das Gefühl, wenn man mit dem Finger in den Zahlenring greift, und das feine Klicken, wenn man das entsprechende Loch bis zum Anschlag durchgezogen hat, wird er nie erleben. So wie meine Grossmütter niemals ein Handy hatten und bereits mit den ersten SBB-Billettautomaten mehr Frust als Lust erlebten.
Wieso ich das erzähle? Weil die Zeit nie stehen bleibt. Sie blieb auch dann nicht stehen, als meine Grossmütter diese Erde verliessen. Gesegnet mit einem langen Leben, aber auch einem Leben mit vielen kleinen und grossen Sorgen. Sorgen, die ich selber nie kannte und die sie stets von mir ferngehalten haben. Und als ich letzte Woche meinen eigenen Sohn zu seinen Grosseltern brachte, hat er mich gefragt: «Mama, hast du auch Grosseltern?» «Ja, ich hatte zwei Grossmütter. Die waren sehr alt und haben diese Erde dann verlassen.» «Wo sind sie jetzt?» «Das weiss ich nicht, aber ich glaube, sie sind an einem schönen Ort. Sie wollten beide in den Himmel, ich bin sicher, dass sie den Weg dorthin gefunden haben.» «Kommen sie wieder?» «Das weiss ich nicht. Aber ich weiss, dass sie noch da sind.» •


Irène Kälin (34)
sitzt seit 2017 für die Grünen im Nationalrat. Sie ist erste Vizepräsidentin des Nationalrats und seit Ende November 2021 Nationalratspräsidentin und damit höchste Schweizerin. Irène Kälin ist eine erfahrene Politikerin: Sie war Grossrätin im Kanton Aargau, Fraktionspräsidentin der Grünen Fraktion im Grossen Rat und Vizepräsidentin der Grünen Schweiz. Kälin setzt sich für eine Politik der Generationengerechtigkeit und den Erhalt der Lebensgrundlagen ein. Ebenfalls macht sie sich unter anderem stark für Lohngleichheit, Elternzeit, mehr Tierwohl und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie ist Mutter eines Sohnes. Für Aufsehen sorgte sie, als sie damals ihr Baby mit in die Session nahm, weil sie es noch stillte. Irène Kälin hat Islamwissenschaft und Religionswissenschaften studiert.

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