Warum darf ich andere nicht anstarren?

Gucken, glotzen, gaffen. Manchmal können wir gar nicht anders, als jemanden anzustarren. Es ist, als ob unser Blick magisch angezogen würde: Der Mann im Zugabteil gegenüber, der im ganzen Gesicht tätowiert ist, das Mädchen auf dem Pausenplatz, in das ich heimlich verliebt bin, der Tennisstar, der auf der Sonnenterrasse seinen Espresso schlürft, der Junge, dessen Brandnarben nicht zu übersehen sind. Einmal ist es Faszination, einmal Verliebtheit, dann wiederum Bewunderung oder Mitleid. Die Gründe und Gefühle, warum wir starren, kön­nen ganz unterschiedlich sein. Eines jedoch haben sie gemeinsam: Etwas hat unsere Neugier geweckt. Was ist so schlimm daran? Schliesslich hat schon der Dichter und Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing festgestellt: «Die Weisheit selbst hat durch die Neugierde ihre meisten Verehrer erhalten.» Neugier ist also keine schlechte Eigenschaft, um auf dem Weg der Weisheit voranzukommen. Aber: Menschen sind keine Gegenstände. Der Luft tut es nicht weh, wenn ich Löcher in sie hineinstarre. Menschen anzustarren heisst jedoch, einen Scheinwerfer auf jemanden zu richten, der gar nicht im Rampenlicht stehen will. Es ist, wie jemanden auf die Bühne zu zerren, der lieber im Zuschauerraum bleiben will. Wenn es um Menschen geht, sollte unsere Neugier daher kein kalter Scheinwerfer, sondern ein warmes Lagerfeuer sein. Statt jemanden ungefragt ins Rampenlicht zu zwingen, sollten wir ihn einladen, sich neben uns zu setzen und zu erzählen. Vor allem aber sollten wir ihm die Freiheit lassen, in der Dunkelheit zu verschwinden, wenn er keine Lust auf Gesellschaft hat.

Urs Siegfried, Initiator und Leiter des Zürcher Philosophie Festivals, hat erst Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, bevor er die Philosophie für sich entdeckte.
Fürs Grosseltern-Magazin beantwortet er jeden Monat eine Kinderfrage. Schicken Sie die Frage Ihres Enkelkindes an redaktion@grosseltern-magazin.ch

Bisher erschienene Antworten von Urs Siegfried auf philosophische Kinderfragen:
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Dieser Artikel stammt aus dem Grosseltern-Magazin 10/2018