Dossier: Erzählen, vorlesen, Verse schmettern

Geschichten eröffnen Kindern neue Welten – Grosseltern können die Tür aufstossen.

Von Martina Fierz (Text) und Frederick Strasche (Illustrationen)

Welches Kind mag es nicht, wenn ihm Geschichten vorgelesen werden? – Dass Vorlesen zudem aufgeregte Kinder beruhigen, vor dem Einschlafen lichte Gedanken in kleine Köpfe bringen oder den Einstieg in ein schwieriges Gesprächsthema ebnen kann, ist weitherum bekannt. Nun bescheinigen Expertinnen und Experten dem simplen Vorlesen oder Erzählen von Geschichten, dem gemeinsamen Anschauen von Bilderbüchern und dem Aufsagen und Einüben von Fingerversen und anderen Reimsprüchlein aber noch ganz andere Qualitäten: Kinder, denen regelmässig jemand vorliest, haben einen grösseren Wortschatz als andere, das Lesen- und Schreibenlernen bereitet ihnen weniger Mühe und sie sind im Durchschnitt besser in der Schule als ihre Altersgenossen, denen nicht regelmässig vorgelesen wird. Sich gemeinsam über eine Geschichte auszutauschen, verstärkt die Bindung zwischen den Beteiligten, und Kinder fühlen sich geborgen, wenn ihnen eine geliebte Person vorliest – oder auch eine erfundene Geschichte erzählt. Das Zusammenspiel zwischen Feinmotorik und ersten Sprachspielen, das Fingerverse vereinen, fördert Sprachentwicklung des Kindes in ihren Anfängen.

Bücher von Anfang an
Diese Erkenntnisse legen nahe, dass es sich lohnt, das Vorlesen, das Geschichtenerzählen und das «Värslen» zu fördern; entsprechend gibt es in der Schweiz verschiedene Institutionen, die mit gezielten Aktionen dazu beitragen. So haben die Stiftung Bibliomedia Schweiz und das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM vor zehn Jahren gemeinsam die Aktion «Buchstart» ins Leben gerufen. «Buchstart» soll dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die Sprachfähigkeit des Menschen in den ersten Lebensjahren entscheidend entwickelt, und stellt dazu ein niederschwelliges Förderangebot für die Kleinsten bereit. Einerseits erhält jedes neugeborene Kind in der Schweiz via Kinderärztin, Kinderarzt oder Elternberatung einen Gutschein für ein Büchergeschenk, das seine Eltern in einer Bibliothek abholen können. Andererseits bieten die Bibliotheken «Buchstart»-Veranstaltungen für zwei Altersgruppen an.

Verschwundene Fingerverse
Kinder von neun Monaten bis etwa zwei Jahren sollen gemeinsam mit ihren Eltern in die Welt der Verse und Reime eintauchen. «In dieser frühen Lebensphase geht es nicht ums Vorlesen. Es geht um den sprachlichen Austausch mit Kleinkindern. Verse und Fingerspiele, später dann das gemeinsame Betrachten von ersten Pappbilderbüchern sind einfach perfekte Mittel zur Kommunikation und damit zur sprachlichen Frühförderung», erläutert Ruth Fassbind von Bi­b­liomedia. Es habe sich gezeigt, dass viele junge Eltern den reichen Versschatz, den alle Sprachen bereithalten, teilweise gar nicht mehr kennen. Hier können «Buchstart»-Veranstaltungen unterstützen. Im Alter von zwei bis drei Jahren versteht ein Kleinkind dann erste zusammenhängende kleine Geschichten. Darauf fokussieren die Veranstaltungen für diese Altersgruppe, mit dem gemeinsamen Betrachten einfacher Geschichten anhand von Pappbilderbüchern.
Da «Buchstart»-Veranstaltungen während des Tages stattfinden, sind auch Grosseltern angesprochen und zur Teilnahme eingeladen. Sie haben zudem oft noch einen Versfundus aus ihrer eigenen Kinderzeit in der Erinnerung bewahrt. Damit können sie ihre Enkelkinder in die Welt der Sprache und der Bücher einführen.

Über Geschichten reden
«Das Zeitfenster für den Aufbau der Sprachstruktur ist begrenzt», erklärt Ruth Fassbind. «Es ist wichtig, das Kind von Anfang an optimal zu unterstützen, und dies bedeutet, viel Zeit in den sprachlichen Austausch mit dem Kleinkind zu investieren.» Der Austausch über das Erzählte ist dabei wichtiger für die Sprachentwicklung des Kindes als das eigentliche Vorlesen; es geht um den Dialog – Ruth Fassbind erläutert: «Eltern oder Grosseltern erzählen ein Stück, fragen nach und tauschen sich mit dem Kind aus. Das Kind unterbricht, zeigt auf etwas und will etwas wissen. Die Erwachsenen nehmen den Faden der Geschichte wieder auf und so weiter.»
Auch andere Veranstaltungen und Aktionen propagieren das Erzählen und Vorlesen. So lanciert das SIKJM diesen Monat den ersten Schweizer Vorlesetag (mehr dazu ab Seite 51), und das Märchen- und Geschichtenfestival Klapperlapapp geht heuer in die dritte Runde (blauer Text rechts). Auch an der Basis gibt es viele Angebote, vor allem Bibliotheken führen flächendeckend Leseförderungsprojekte durch – etwa Geschichtenstunden und Bilderbuchkino für Vorschulkinder. Oder sie lancieren neue Angebote wie ein generationenübergreifendes «Lesetandem». •